Blogreihe "Zwischen den Fronten" - Blogpost 1: Kostenexplosion im Schweizer Gesundheitswesen: einige Gedankenspiele
Brandaktuell: Inside Paradeplatz titelt diesen Freitag „Unispital-Spitze: 23 Mio. zum Fenster rausgeschmissen“. Nichts Neues, denn es vergeht kaum mehr eine Woche ohne düstere Finanz- Schlagzeilen. Hier einige Beispiele in meinen eigenen Worten zusammengefasst:

Brandaktuell: Inside Paradeplatz titelt diesen Freitag „Unispital-Spitze: 23 Mio. zum Fenster rausgeschmissen“. Nichts Neues, denn es vergeht kaum mehr eine Woche ohne düstere Finanz- Schlagzeilen. Hier einige Beispiele in meinen eigenen Worten zusammengefasst:
- „Spital X schreibt X Millionen rote Zahlen“
- „Krankenkassenprämien steigen weiter, kein Ende in Sicht“
- „Egoismus unter den Berufsgruppen – Mengenausweitung auf Vormarsch“
- „Kostenexplosion“
- „zu teuer gebaut“
- „Pflegeinitiative verursacht Kosten, die wir nicht stemmen können“
- „Ärzte können ihre Kosten nicht mehr decken und quittieren den Job“
- "Familien können sich die Krankenkassenprämien nicht mehr leisten"
Sind wir mal ehrlich: einige dieser Schlagzeilen sind nun mal leider auch tatsächlich Fakt und als liberal eingestellte Privatperson bin ich auch absolut dafür, dass Transparenz herrschen soll und die Gesellschaft informiert wird. Was mich aber stört, ist der Fakt, dass harte Schlagzeilen kursieren, dann eine Problemstellung beschrieben ist und dann einfach: Punkt. Selten mit richtigem oder ganzem Kontext, warum das System in dieser schiefen Finanzlage steht. Die Antwort darauf, geschweige den ein einfacher Lösungsvorschlag zu unterbreiten, ist nämlich auch gar nicht so einfach.
Aber was ist die Konsequenz dieser Schlagzeilen? Was löst das in der Gesellschaft und der Gesundheitsbranche aus? Unruhe, Ängste, Chaos. Gegenseitige Schuldzuweisungen. Die schwarzen Schafe werden gesucht. Ja, ich spreche bewusst von der Mehrzahl. Das Motto ist „Finger pointing“, denn egal wer schuld an der Misere hat/ sein soll, man (Einzelperson oder auch Institution) ist es bestimmt nicht! In einem komplexen System wie dem Gesundheitswesen, wo man oft vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, bleibt einem ja auch nicht viel übrig. Die eigene Haut zu retten, scheint am naheliegendsten.
Im heutigen Blog möchte ich einige Themen ansprechen, die meiner Meinung nach zur Reduktion der Kostenexplosion beitragen könnten. Die gesamte Thematik ist enorm tiefgreifend, sowie politisch und wirtschaftlich extrem komplex und von vielen unterschiedlichen Interessen gefärbt. Deshalb betone ich, dass die von mir ausgewählten Themen nicht abschliessend sind, sonst würde es den Rahmen des Blogs sprengen.Vielmehr sollen die ausgewählten Themen pragmatische Denkanstösse bieten, welche aus meiner Perspektive relativ rasch von mir, Dir, uns allen umgesetzt werden könnten.
Warum Kostenexplosion? Fehlanreize und Silo-Denken!
Auf der Suche nach Antworten und mehr Hintergrundwissen habe ich in den letzten zwölf Monaten diverse Gespräche geführt, bin an thematisch passende Kongresse gegangen und habe viel nachgelesen. Egal ob ich mit Entscheidungsträgern aus der Politik, Krankenkassen oder Berufsangehörigen aus der Spital-, Heim-, Spitex-Industrie spreche: die Antworten sind immer die Gleichen. Wir haben Fehlanreize im System und ein „Silo-Denken“. Die selbsternannten „weissen Schafe“ leiden darunter und die „Schwarzen“ ziehen ihren Profit daraus. So der gemeinsame Konsens! Liebe Leser:in, Du gehörst bestimmt zu den Weissen, oder?
Grundsätzlich kann man also sagen, die Baustellen sind erkannt, doch das Silo-Denken ist nach wie vor vorhanden und die Tarifstruktur veraltet. Ja, ich weiss, die EFAS kommt, Tardoc löst Tarmed ab und man spricht von der Überarbeitung der DRG’s. Aber was fällt hierbei auf, abgesehen davon, dass es auch hier einige kritische Stimmen gibt? Genau, auch diese Tarife werden fast immer isoliert betrachtet.
Wenn wir jedoch bedenken, dass wir immer mehr chronisch kranke Menschen und eine alternde Bevölkerung behandeln, dann müssten wir endlich Tarife für das gesamte Ökosystem anstreben. Solange das Silo-Denken und die Fehlanreize nicht aus dem Weg geräumt sind, werden wir hauptsächlich darüber reden, kaum Synergien nutzen und erst recht nicht sinnvoll umsetzen.
Eine kleine Anekdote zu einer grossartigen Idee, die theoretisch genau in diese Richtung geht: Ich bin aufgrund meines Krankenkassenmodells in einem «Gesundheitszentrum» als potenzielle Patientin angemeldet. Klingt super! In diesem Zentrum arbeiten verschiedene Fachärzte sowie Psychologen, und ich glaube, es gibt sogar eine Physiotherapie. Interprofessionalität unter einem Dach – geniale Idee! Aber stopp: Wird hier eine gegenseitige und patientenorientierte Zuweisung praktiziert? Gibt es ein gemeinsames Dokumentationssystem oder einen gemeinsamen Rechnungssteller? Fehlanzeige. Ein Gebäude voller Möglichkeiten für Synergien, das in der Realität kaum genutzt wird. Gut gemeint ist nicht gut gemacht. Fehlt der Wille oder lohnt es sich einfach nicht? Keine Ahnung.
Reaktion statt Prävention
Ein grundlegendes Problem im Gesundheitswesen ist, dass unser Tarifsystem extrem reaktiv statt präventiv ist. Dabei spreche ich nicht von Massnahmen, die über Zusatzversicherungen oder betriebliches Gesundheitsmanagement möglich sind, sondern von den Fehlanreizen im Grundversorgungssystem. Hier möchte ich betonen: Es geht in diesem Abschnitt nicht um die Unterscheidung zwischen "weissen" oder "schwarzen" Schafen, sondern um die Realität, wie unser Vergütungssystem funktioniert. Pflegekräfte und Mediziner stehen -überspitzt gesagt- täglich vor der Entscheidung: Soll ich mit Mehraufwand, der oft nicht kostendeckend ist, Präventionsmassnahmen einleiten, oder muss ich, um kostendeckend sein, einfach gemäss dem Tarifsystem arbeiten und daher mehr auf Reaktion setzen?
Hier zwei kurze Praxisbeispiele
Beispiel 1- Diabetes Typ II Prävention:
Ein Diabetologe hat keinen finanziellen Anreiz, einen Typ-2-Diabetiker vom Insulin wegzubringen. Viel lukrativer sind die regelmässigen vierteljährlichen Sprechstunden und Insulinanpassungen im 15-Minuten- Sprechstunden-Takt. Eine Patientenedukation ist zeitlich viel aufwändiger und mühsamer (und nicht jede:r Patient:in ist bereit, den Lebensstil zu ändern). Selbst wenn Arzt und Patient motiviert sind, macht es aus heutiger finanzieller Sicht kurzfristig keinen Sinn. Dabei wissen wir, dass die Langzeitfolgekosten von Diabetes uns künftig noch richtig überrollen werden. Bereits heute leben etwa 450'000 Menschen mit Diabetes Typ 2 in der Schweiz. Ein sinnvolles, präventives Investment heute könnte sich in Zukunft in erheblichen Einsparungen auszahlen.
Silo-Denken: In diesem Fall ist es nicht zwingend ein finanzielles Problem der Arztpraxis, sondern der gesamten Gesundheitskaskade, wie Pflegeheime, Spitex, Arbeitswelt und Krankenkassenprämien. Der Diabetiker wird älter und in der Regel zunehmend adipöser, was weitere Erkrankungen nach sich zieht. Irgendwann landet er bei der Spitex oder im Pflegeheim, was dort zu mehr Aufwand führt und körperlich anstrengender für das Personal ist.
Fehlanreiz: Kurzfristig ist diese Art der Vergütung lukrativ und weniger teuer (?) verursacht jedoch mittel- und langfristig enorm hohe Kosten auf verschiedenen Ebenen.
Beispiel 2 – Prävention im Pflegeheim:
Ein weiteres Beispiel für Fehlanreize im Gesundheitssystem betrifft die Pflegeabrechnung im Pflegeheim (RAI). Hier zeigt sich eine ähnliche Problematik wie bei der Diabetes-Prävention:
Finanzieller Anreiz: Je pflegebedürftiger ein Bewohner ist, desto höher ist der finanzielle Ertrag für das Pflegeheim. Das bedeutet, dass besonders körperlich pflegebedürftige Menschen wirtschaftlich lukrativer sind. Was für das Heim gut, aber für die gesellschaftlichen Gesamtkosten negativ ist.
Ironie der Vergütung: Ein mobiler, leicht demenziell erkrankter Mensch erfordert oft mehr Aufwand und Betreuung als ein bettlägeriger Bewohner. Trotzdem wird er mit einem niedrigeren Tarif vergütet. Pflegepersonal bemüht sich dennoch, die Mobilität der Bewohner:innen zu erhalten, nicht aus finanziellen Gründen, sondern aufgrund ihres Berufsethos.
Silo-Denken: Aus Sicht der Krankenkassen und Selbstzahler: Die Hauptsache ist eine möglichst niedrige Rechnung seitens des Pflegeheims, gleichzeitig aber die Erwartung, dass Prävention und top Pflege- und Betreuungsqualität gewährleistet wird.
Fehlanreiz: Der wirtschaftliche Druck im Pflegeheim könnte dazu führen, dass Präventionsmassnahmen weiter abnehmen. Mit der weiteren Folge, das sich der Fachkräftemangel verschärft uvm. Im Umkehrschluss, aber trotzdem wieder höhere Kosten für alle verursacht. Du siehst, auch hier ist das Tarifsystem aktuell nicht zu Ende gedacht. Übrigens werden so auch unnötige Spital- und Psychiatrieübertritte gefördert.
Ambulant vor Stationär – der Trend, der kommen wird
Politisch entschieden und mit EFAS (Einheitliche Finanzierung stationär und ambulant) gestützt. Bis 2032 all unsere Probleme gelöst?
Für mich ein Trend der absolut in die richtige Richtung geht. Gleichzeitig etwas zu langsam unterwegs, aber immerhin. Da wir nun mehrere Jahre Zeit haben, ist das Positive daran, dass wir uns jetzt eben genau sinnvoll überlegen können, was dabei alles zu berücksichtigen ist. Und hier mein Appell: nicht nur die Finanzierung muss geklärt sein. Fast noch wichtiger, wer macht künftig WAS, WIE und WO?
Ich erlaube mir hier einige, richtig simple, aber oft vergessene Aspekte als Denkanstoss niederzuschreiben.
Der Wunsch der (alternden) Gesellschaft
«Ich gehe sicher nie ins Pflegeheim» - wohl eine die top Aussagen der Babyboomer. Auch die Generation, die heute der grösste Teil der Wählenden-Bevölkerung ausmacht. Also völlig klar, dass die Politik auf die Karte ambulant setzt. Denn die Wählerschaft will daheimbleiben.
Versteht mich nicht falsch: auch ich möchte möglichst bis ans Ende daheimbleiben und selbst heute als junge Frau, wenn immer möglich nie stationär (Spitalübernachtung) gehen. Das ist ja nicht nur aus Patientenperspektive gut, sondern es könnte in gewissen Fachbereichen vielleicht sogar dazu führen den Nachtdienst abzuschaffen und so neue Personal-Ressourcen zu gewinnen.
Ambulant vor Stationär bedeutet aber auch, dass der Anteil der Spitex Mitarbeitenden steigen muss. Unabhängig davon, ob es Pflege betrifft oder «Hospital@home» Tätigkeiten. Es bedeutet, dass sich Berufsgruppen, die sich gewohnt sind «stationär» zu arbeiten, sich in neuen Arbeitsmodelle zurechtfinden müssen.
Eine Change der kommt, aber gewisse und simple Themen berücksichtigen sollte:
- Die Pflege ist sich das «Spitex»- Setting bereits gewohnt, dennoch viele Pflegefachpersonen möchten dort nicht arbeiten, das hat unterschiedliche Gründe. Diese sind teilweise ganz simpel, aber auch nachvollziehbar: bei den einen ist es, weil sie in den Wintermonaten nicht Autofahren möchten, andere haben Unwohlsein beim Gedanken daran in fremde Haushalte alleine zu gehen.
- Weitere Berufsgruppen werden künftig in dieses Setting umgelagert. Mit diesen diskutieren wir teilweise in Change-Projekten schon darüber, dass eine fixe einstündige Mittagspause immer von Punkt 12.00-13.00 Uhr nicht möglich ist, oder dass der Patient im Zimmer besucht wird und nicht im Behandlungszimmer im EG der Institution. Diese Diskussion ist Realität, schon heute, und das stationär.
- Aktuell ist es so, dass eine ambulante Betreuung voraussetzt, dass zuverlässig Termine vereinbart werden können. Sobald jemand nicht selbst zur Toilette kann, oder «akuter» und ungeplanter betreut werden muss bspw. bei einer Demenzerkrankung oder einfach bei sehr verängstigten Patienten (von denen gibt es sehr viele) funktioniert dieses Modell nicht mehr
Jetzt höre ich schon alle Befürworter der neusten Innovation «die Angehörigenpflege» - das ist die Lösung! Ich habe wirklich Respekt vor Angehörigen, die das tagtäglich machen. Aber realistisch gesehen, wird das auch künftig eine Minderheit sein. Oder wirst Du liebe Leser:in zukünftig dein Arbeitspensum und Freizeitaktivitäten reduzieren und die «Rund-um-Betreuung» deiner Angehörigen zu gewährleisten?
Und wollen wir das als Gesellschaft überhaupt? Sprechen wir in der Politik nicht aktuell davon, dass wir junge Mütter zurück in die Arbeitswelt holen wollen, weil wir zu wenige Fachkräfte haben?
Die Liste, was zu Bedenken wäre, ist unvollständig, und ich weiss das klingt jetzt vielleicht etwas pessimistisch. Ist es nicht, denn ich glaube sehr daran, dass dies alles möglich ist. Aber tatsächlich nur wenn das Vorhaben von A bis Z zu Ende gedacht wird.
Aber hey good news: es gibt sie ja schon, jene innovativen Institutionen dies einfach «machen». Ein aus meiner Sicht sehr vielversprechendes Projekt, ist jenes der Swiss Medical Network Gruppe. Bei einem Referat über dieses laufende Projekt wurden erste Erfahrungen geteilt, positive, als auch Herausforderungen, sowie passende Lösungsvorschläge. Die relevanteste Aussage, welche ich gerne zitieren möchte «das Projekt forciert eine Fokus-Veränderung vom «Sick Care» zu «Health Care». Im Mittelpunkt waren nicht wie so oft in der Debatte «nur» die Ärzte, sondern die interprofessionellen Kompetenzprofile, die durch die «Full Captation» (Integrierte Versorgung) Finanzierung möglich ist. Also weg vom «Fee-for-service» (traditionelle Erstattung), wo wir heute oftmals im «Silo-Denken» herumdiskutieren. Welche Berufsgruppe, hat «welchen Tarifwert», wer ist es überhaupt Wert, einen eigenen «Tarif» zu erhalten. Kurz: I like! und kann es nur jedem empfehlen dieses Projekt zu beobachten.
Fachkräftemangel oder die Fronten zwischen den Berufsgruppen?
Das bringt mich zum nächsten Thema: Ist der Fachkräftemangel wirklich so extrem, oder sind die unterschwelligen «Macht-Spiele» zwischen den Berufsgruppen das Problem?
Ich möchte dieses Thema nur kurz anreissen, da ich es in einem anderen Blogpost ausführlicher behandeln werde.
Meine steile These: Der Fachkräftemangel könnte deutlich verringert werden, wenn alle entsprechend ihrer Kompetenzen eingesetzt würden. Die Berufszufriedenheit würde steigen, und die Verantwortung könnte auf mehrere Schultern verteilt und eingefordert werden.
Ich höre schon die Einwände: „Das führt zu Mengenausweitung und höheren Kosten!“ Gleichzeitig klagen aber alle über den Fachkräftemangel. Fakt ist: Wir haben vielleicht zu wenige Fachpersonen, aber definitiv zu viele Fachpersonen, die nicht kompetenzgerecht eingesetzt werden.
Entweder wir stoppen die Akademisierung von Pflege, Therapeuten und Hebammen und Co. oder wir durchbrechen die alten Hierarchien. Ich bin klar für die zweite Variante und überzeugt, dass dies für alle ein Gewinn wäre. Denn dieser bisher nicht stattgefundene Wandel kostet unser System ebenfalls unnötig viel Geld!
Wir: die Leistungsnutzer (aka Empfänger)
Spätestens in diesem Abschnitt, liebe Leser:innen, findest Du auch deine Rolle im Ganzen wieder. Wir kennen es alle, jeweils im Herbst der bereits angekündigte Prämienschock. Die Wut und Frustration ist hoch. Ich habe weiter oben von den weissen, schwarzen und grauen Schafen im System geschrieben. Und muss Dir leider mitteilen, dass ziemlich sicher auch Du dazu gehörst. Willkommen im Club der «grauen Schäfchen» (Ausnahmen möglich).
Als Pflegefachfrau, aber auch als ehemalige Arztpraxis-Managerin, habe ich so oft von den Patienten gehört: «Ich habe das zu Gute, ich zahle ja auch genug.» Öfter musste ich mir da das Schmunzeln verkneifen, nicht weil ich es lustig fand, sondern schon fast eher als persönliche Intervention, die Contenance zu behalten. In den absurdesten Fällen wurde sogar gedroht: «Dann wechsle ich halt den Arzt, wenn ich XYZ nicht erhalte.» Einmal passierte dies sogar, weil eine Ärztin der 90-jährigen Heimbewohnerin sagte, dass es keine weitere Dauerverordnung für Ergotherapie gibt, weil diese als Beschäftigungstherapie missbraucht wurde. Also ohne medizinische oder therapeutische Indikation. Die Patientin hat natürlich einen anderen Arzt gefunden, der das verordnete – das ist aber ein anderes Thema und es ist total absurd.
Ja, Du und ich zahlen eine saftige Prämie. Wir wählen auch die Franchise. Ist man relativ gesund und braucht selten bis fast nie einen Arzt, Pflege etc., dann finde ich den Frust absolut berechtigt. Jene, die mir das aber dann jeweils drohend mitgeteilt haben, gehörten nicht unbedingt zu diesem Teil der Gesellschaft. Es waren jene, die ein X-Faches bezahlt bekommen haben im Vergleich zu dem, was sie einbezahlt haben. Auf Kosten von «uns anderen». Sind Interventionen nötig, absolut legitim. Dafür gibt es Versicherungen. Aber es ist schon verrückt, dass die Erwartungshaltung gleichermassen mit den Krankenkassenprämien der tatsächlichen «Leistungsnutzer» fast gleichmässig steigt – teilweise echt ins Absurde hinein. Wo wie oben im Beispiel der alten Dame es halt jene Leistungsnutzer hat (übrigens spreche ich in diesem Fall extra von "Nutzer" und nicht Empfänger), aber eben auch Berufsangehörige gibt, die die Kostenexplosion unnötig voran treiben.
Uncool, oder? Aber Du kennst das bestimmt auch: Vielleicht hast Du ausnahmsweise mal deine Franchise aufgebraucht und hast noch ein paar Monate vom Jahr übrig. Da kommt man schon auf den Gedanken, was könnte man denn jetzt noch so medizinisch tun, um auch von den teuren Prämien «zu profitieren».
Also ich gebe es zu: Letztes Jahr habe ich zum allerersten Mal meine Franchise aufgebraucht und der Reiz war da: «Jetzt könnte ich doch endlich mal zum Facharzt XY.» Ich habe das nicht gemacht, aber nicht weil ich «ein weisses Schaf» bin und das System schonen wollte, sondern ich hatte weder die Zeit, Lust noch war der «Druck», das abzuklären, genug gross. Es war einfach zu wenig prioritär – der Aufwand war mir zu mühsam. Aber hätte ich vielleicht die Zeit gehabt oder mir nehmen wollen, aufgrund falscher Indikation, nämlich «ich will jetzt auch mal profitieren, was ‘gratis’ haben» – ich hätte gekonnt. Und ich weiss aus meinem Bekanntenkreis, dass sich viele diese Zeit nehmen und zwar genau mit dem Grund "jetzt bin ich mal dran". Und ich möchte hier darauf hinweisen, sind es berechtigte präventive Massnahmen, mach’s. Aber sonst: lass es bitte sein. Es ist ein Bumerang.
Ein weiterer Aspekt, welchen ich in diesem Zusammenhang benennen möchte ist, das wir als Gesellschaft auch die Offenheit haben müssen, dass es eben nicht für jedes «Wehwehchen» und allgemein jedes Gesundheitsthema einen Arzt braucht. Sondern die Akzeptanz, dass vielleicht auch eine andere Fachperson genau so gut, manchmal sogar besser, dein gesundheitliches Problem mit Dir managen kann.
Zum Schluss…
möchte ich betonen, dass die Baustellen der «Kostenexplosion» zwar von den Meisten erkannt wird, wir uns jedoch oft auf die reaktive Symptombekämpfung konzentrieren. Anstatt bei den offensichtlichen Ursprüngen der Problematik anzusetzen. Ein wichtiger Anfang ist es sicherlich, diese Themen auf den Tisch zu legen, aber wir müssen uns auch bewusst sein, das «finger pointing» oder die Suche nach den «schwarzen Schafen» nicht das Problem lösen wird. Vielmehr sollte uns allen bewusst werden, dass es ein gesellschaftliches Problem ist, das uns alle betrifft und von uns allen, positiv als auch negativ, beeinflusst wird.
Wollen wir eine ernsthafte Veränderung, dann müssen wir dort ansetzen, wo es unbequem ist. Dies erfordert meiner Meinung nach auch einen massiven Kulturwandel für viele von uns. Die Angst, dass bald „kein Geld mehr vorhanden ist“, und deshalb beispielsweise Spitäler unnötig geschlossen werden und die Versorgung deshalb nicht mehr gewährleistet werden kann, teile ich nicht. Die systemrelevanten Versorgungsmodelle im Gesundheitssystem sind genau wie unsere Grossbanken „too big to fail“ – dennoch sollte das kein Freifahrtschein sein, im alten Trott weiterzumachen.
Ich persönlich bin optimistisch, dass wir früher oder später die Kurve kriegen. Die Frage ist nur: Muss das System zuerst komplett kollabieren und neu aufgebaut werden, oder starten wir jetzt mit den nötigen Reparaturen? Ich hoffe auf Letzteres!
Zwei abschliessende Fragen:
- Sind wir bereit, gemeinsam an einem Strang zu ziehen und das Silo-Denken abzubauen?
- Und wenn ja, was braucht es dafür?
Eine wichtige Anmerkung: ich bin weder Journalistin noch Wissenschaftlerin. Der Blog basiert auf meinen Erfahrungen und persönlichen Gedankengängen. Er erhebt keinen Anspruch auf fertige Lösungen oder was «Richtig und Falsch» ist, sondern soll zum Nachdenken anregen
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