Wie wir die Gesundheitskosten in den Griff bekommen können: Ein Gedankenexperiment
Die Thurgauer Zeitung berichtete am 10. Juni 2024: «Auch nach dem Nein zu den beiden Gesundheitsinitiativen bleibt es die Gretchenfrage: «Wie lassen sich die steigenden Gesundheitskosten in den Griff kriegen?» Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider forderte alle Akteure im Gesundheitswesen mit Nachdruck auf, «ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen» sagte sie vor den Medien.

Die Thurgauer Zeitung berichtete am 10. Juni 2024: «Auch nach dem Nein zu den beiden Gesundheitsinitiativen bleibt es die Gretchenfrage: «Wie lassen sich die steigenden Gesundheitskosten in den Griff kriegen?» Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider forderte alle Akteure im Gesundheitswesen mit Nachdruck auf, «ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen» sagte sie vor den Medien.
Genau dieser Meinung bin ich auch und äusserte dies als Wunsch auf der SEF-Bühne letzten Freitag ebenfalls, und sprach meinen politischen Gesprächspartner direkt an, dass es endlich eine richtige Gesundheitsreform braucht, welche insbesondere das Anreizsystem ins Visier nimmt.
Ein Gedankenexperiment zu meiner Vision, wie wir aus meiner Perspektive eine politische Gesundheitsreform in Bezug auf das Anreizsystem anstreben sollten.
Ausgangslage
Die Krankenkassenprämien steigen Jahr für Jahr – ein Ende ist nicht in Sicht! Dazu kommt der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen, wo scheinbar alle aktuellen Versuche nicht wirklich zum Erfolg führen. Woran liegt das?
- An der Alterung der Bevölkerung?
- An der massiv steigenden psychischen Überforderung der Gesellschaft und den folgenden chronischen psychischen Erkrankungen?
- Am gesamtgesellschaftlichen «schlechteren» Lifestyle (weniger Bewegung, mehr verarbeitete Nahrungsmittel, mehr Lärm, Schmutz, etc.)?
- An den teuren Durchbrüchen der MedTech- und Pharma-Branche?
- An den externen Personaldienstleistern, die «horrende» Preise verlangen?
- An den vielen Consultants, die die neuesten Lean-Innovationen anbieten?
Eines soll gesagt sein, die Fragestellung ist extrem komplex und die Antwort(en) sicher nicht einfach und die Umsetzung eine grosse Herausforderung. Aber egal wie oft ich diese Fragen drehe und wende, ich komme immer wieder auf die gleiche Antwort:
Wir brauchen als einer der wichtigsten ersten Schritte einen Fokuswechsel im Anreizsystem! Warum?
Meine Sicht als Playerin im System
Als Pflegefachfrau wurde mir in jeder Ausbildung immer wieder beigebracht, wie wichtig es ist und vor allem, dass unsere Hauptaufgaben seien:
- Ressourcen zu fördern!
- Patientenedukation!
- Prävention vor Reaktion!
Was ich aber tatsächlich seit Jahren erlebe, ist, dass man ohne Zusatzversicherung, die Prävention weder wirklich fördert noch wirklich finanziert wird. Es sind keine finanziellen Anreize da, dies zu tun. Stattdessen muss man zuerst krank werden, um eventuell als PatientIn in präventiven Massnahmen beraten zu werden und noch Schlimmeres zu verhindern. Nämlich ziemlich genau ab der Diagnose, also ab dem tatsächlichen «Krankheitseintritt», verdient das System Geld – und teilweise extrem gut! Faktisch und salopp gesagt: Je (chronisch) kränker und/oder je höher die Pflegestufe, desto finanziell lukrativer für den Gesundheitsdienstleister, die Pharma und den MedTech-Bereich.
Man darf die Player im Gesundheitssystem jedoch keinesfalls verteufeln! Es ist nicht so, dass grundsätzlich nicht Ressourcen gefördert, Patienten empowert oder präventive Massnahmen angestrebt werden würden – es wird halt oft leider einfach nicht bezahlt. Weder vom System noch vom Selbstzahler. Zudem fehlt oftmals auch schlicht und einfach die Zeit, weil man dann mit anderen Aufgaben beschäftigt ist und ein «Fokuswechsel» rentiert somit im Endeffekt ebenfalls nicht wirklich.
Meine Sicht als Mitglied der Gesellschaft und potenzielle Patientin
Bevor wir aber nun mit dem Finger auf die «bösen Player» im System zeigen, müssen wir uns alle selbst fragen: Was kann «ich» tun, um diese Kosten zu senken und das System zu entlasten? Wo ist allenfalls mein persönlicher negativer Beitrag zu dieser Misere?
Das Gesundheitswesen ist teuer – liegt es auch an mir?
Aktuell ist es so: Egal was «ich» habe, ich habe – trotz Fachkräftemangel – jederzeit Zugang zu medizinischer Versorgung. Warum also sollte ich präventiv darauf achten, dass ich gar nicht erst krank werde? Das System steht bereit und bezahlt wird es ab einem bestimmten Betrag ja auch von der Krankenkasse. Hier erlebe ich immer wieder, wie fahrlässig teilweise mit der eigenen Gesundheit umgegangen wird – und das oft «nur», weil ja «Rettung» möglich ist und je nach Franchise früher oder später von extern bezahlt wird.
Schockierend wird es aber, wenn Geld und Fachkraft-Ressourcen komplett und unnötig verschwendet werden, hier ein paar - leider wahre - Beispiele:
- Wenn die Rettungssanität sich als Taxidienst fühlt, anstatt Notfälle zu transportieren.
- Wenn Eltern mit «Mückenstichen» auf den Kindernotfall kommen und ein Spitalbett verlangen.
- Wenn die 95-jährige Frau Muster mit schwerer Demenz nochmals auf die Intensivstation verlegt wird, weil keine Patientenverfügung existiert.
Also konkret dann, wenn Patienten/ Patientinnen Leistungen verlangen, welche medizinisch gesehen einfach keinen Sinn machen.
Ganz oft ist aber auch Unwissen und Unsicherheit vorhanden. Dazu komme ich weiter unten, wie dem entgegengewirkt werden könnte.
Eigenverantwortliche Prävention – und das sogar aus egoistischen Gründen!
Wenn man dann mal krank ist, will man gesund sein. Möglichst rasch und komplett. Die Wissenschaft hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht – Gott sei Dank! Aber wir haben nach wie vor und subjektiv gefühlt immer mehr Krankheitsbilder, die trotzdem nicht mehr ganz heilbar sind. Das soll keine Moralapostel-Geschichte werden: aber im Endeffekt sollte sich jede/-r selbst fragen, was einem die Gesundheit wert ist.
Wollen wir so weitermachen wie jetzt und die Kostenexplosion vorantreiben? Das System wie eine Zitrone bis zum Gehtnichtmehr auspressen? Dann müssen wir auch nichts verändern – aber dann bitte auch nicht über die Rechnung jammern, die jeweils Ende Jahr eintrudelt! Und uns nicht darüber wundern, dass wir immer mehr chronisch kranke Menschen haben – physisch als auch psychisch.
Wollen wir das ändern? Dann muss sich Herr und Frau Schweizer bewusstwerden, dass jede/-r dazu beitragen kann. Es ist relativ einfach: Bewegung, Ernährung, mentale Zufriedenheit. Für alle drei Dinge ist man im Normalfall – mindestens hier in der Schweiz- selbst verantwortlich und hat Möglichkeiten.
Lange Rede, kurzer Sinn: Nur weil «ich» das vermeintliche Recht auf all diese Behandlungen habe (weil ich ja Krankenkassenbeiträge zahle), heisst das nicht, dass ich auch unnötig davon Gebrauch machen muss. Das können wir besser und es gibt bessere Alternativen!
Deshalb mein Reformvorschlag: Das Anreizsystem komplett verändern
1. Finanzielle Anreize für Prävention und Outcome von Behandlungen schaffen, wie zum Beispiel:
- Präventive Patientenedukation wie Ernährungs- und Bewegungsberatung.
- Reaktive Patientenedukation zur Genesung, z.B. Lifestyle-Änderungsberatung bei Diabetes Typ 2 mit dem Ziel, dass Patient kein Insulin mehr benötigt.
- Förderung vorausschauender Therapieplanung wie Advance Care Planning (ACP)
- Anreiz für Findung der besten Therapieform je nach Individuum und nicht einfach die teuerste OP und teuerste Bildgebung (Stichwort Mengenausweitung)
- Synergien nutzen und Kompetenzzentren schaffen, anstatt «jede Region hat alle Kompetenz- und Fachbereiche»
2. Prävention und Eigenverantwortung der Bevölkerung fördern:
- Anreize schaffen, um unnötige Gesundheitsdienstleistungen zu vermeiden.
- Eigenverantwortung für Bewegung, Ernährung und Zufriedenheit übernehmen.
- ...und das ganze supportet von der Grundversicherung mit klaren Anreizen der individuellen Kostensenkung respektive Steigerung der Prämien
Versteht mich nicht falsch, mir ist durchaus bewusst, dass man auch einfach «Pech» haben kann, z.B. indem man bereits krank geboren wird oder einen Unfall hat. Solche Fälle sollten keinesfalls bestraft werden, und hier bin ich ein absoluter Befürworter des «Sozialismus» im System. Genau dafür sind auch Versicherungen da. Aber momentan scheint das Gesundheitssystem wie eine Mischung aus Migros, Coop, Aldi, Denner und Globus zu sein – eine grosse Auswahl an Möglichkeiten, was man sich alles gönnen könnte. Dabei setzt man teilweise bewusst seine eigene Gesundheit aufs Spiel. Aus meiner Sicht eine klassische 1.-Welt-Luxus-Problematik.
Durch die Anpassung der Anreizsysteme erhoffe ich mir…
Wenn jede Person Eigenverantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen würde, könnten wir grosse Fortschritte erzielen. Die Interprofessionalität sollte sinnvoll gestaltet werden, ohne offizielle oder inoffizielle Machtkämpfe bezüglich der Kompetenzen zwischen den Berufsgruppen. Alle sollten entsprechend ihren Stärken und gelernten Kompetenzen arbeiten.
Pharma, Medizintechnik und Wissenschaft sollten ihre Energie und ihren Fokus auf Prävention statt auf Reaktion richten. Es sollte darum gehen, die Menschen gesund zu halten oder sie durch Lifestyle-Veränderungen tatsächlich zu befähigen, wieder gesund zu werden. Dieser Bereich müsste auch sehr gut vergütet werden.
Ich bin davon überzeugt, dass wir unter diesen Voraussetzungen fünf systemrelevante Veränderungen erreichen würde, nämlich:
- Reduktion der Krankheitslast und Kosten: Ein stärkerer Fokus auf Prävention und Gesundheitserhaltung würde die Krankheitslast und die damit verbundenen Kosten deutlich reduzieren.
- Höhere Zufriedenheit und Motivation der Gesundheitsfachkräfte: Gesundheitsfachkräfte könnten ihre Kompetenzen und Stärken in einem kooperativen und respektvollen Umfeld voll ausschöpfen, was zu höherer Zufriedenheit und Motivation führen würde.
- Verbesserte Gesundheitskompetenz und Eigenverantwortung der Bevölkerung: Eine erhöhte Gesundheitskompetenz und Eigenverantwortung würde zu einem gesünderen Lebensstil und einer besseren allgemeinen Gesundheit der Bevölkerung führen.
- Ressourcenverschiebung zu präventiven Massnahmen: Ressourcen würden hin zu präventiven Massnahmen und gesundheitsfördernden Dienstleistungen verschoben, die langfristig nachhaltiger und kosteneffizienter sind.
- Innovationswelle im Bereich Gesundheitsförderung und Prävention: Durch die verstärkte Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Berufsgruppen und Industrien würden neue, effektivere Ansätze zur Gesundheitsförderung entwickelt, was zu einer Innovationswelle in diesem Bereich führen könnte.
Aber um realistisch zu bleiben: um diese Ziele zu erreichen, benötigt es:
- Einen Innovationsanschub, der sich lohnt: Innovationen sollten nicht nur von oben und der Politik kommen, sondern auch von der Basis aus entstehen. Wir müssen sicherstellen, dass alle MitarbeiterInnen in den Innovationsprozess einbezogen werden, um nachhaltige Lösungen zu schaffen.
- Unternehmerische Anreize und Ausbildungsoffensiven: Wir müssen ein Umfeld schaffen, in dem sich unternehmerische Initiativen im Gesundheitswesen lohnen. Gleichzeitig müssen Fachkräfte in der Pflege, Therapie und Medizin unternehmerische Fähigkeiten erlernen, um Innovationen voranzutreiben.
- Einbeziehung der Basis: Es ist entscheidend, dass wir die tatsächlichen Herausforderungen verstehen, denen MitarbeiterInnen in der Gesundheitsbranche gegenüberstehen. Ein (unternehmerisches) Advisory Board, das direkt mit Basis-Mitarbeitenden zusammenarbeitet oder sogar aus Basis Mitarbeitenden besteht, kann dabei helfen, praxisnahe und wirkungsvolle Lösungen zu entwickeln.
Mein Fazit zu meinem persönlichen Gedankenexperiment:
In Anbetracht der steigenden Gesundheitskosten ist ein grundlegender Fokuswechsel im Anreizsystem erforderlich. Durch verstärkte Eigenverantwortung und eine Neuausrichtung auf präventive Massnahmen können wir Kosten reduzieren, die Zufriedenheit der Fachkräfte steigern und die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung verbessern. Dies erfordert einen Innovationsanschub, unternehmerische Anreize und eine Einbeziehung der Basis und ein überarbeitetes Finanzierungssystem.
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